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Auf der Grenze – Þingvellir

In Þingvellir vereinigten sich am Anfang auch die Isländer und wurden eine Nation, an diesem Ort sind die denkwürdigsten Ereignisse begangen worden, und hier wurde in 1944 die Republik gegründet. Auf dem flachen Gelände vor unseren Augen geschahen die meisten herausragenden Ereignisse der isländischen Geschichte, und die wichtigsten Entscheidungen wurden hier getroffen. Und hier gründeten die Isländer ihr altes und bedeutendes Parlament.

Þingvellir ist aber nicht nur eine historisch interessante Stätte, sondern es ist auch ein besonderes Naturparadies. Der Mittelatlantische Rücken, der die europäische und die amerikanische Kontinentalplatte trennt, verläuft hier durch das vor uns liegende Tal. Nirgendwo sonst kann man so augenfällig die Grenzen der Neuen und der Alten Welt wahrnehemen.

Vor neuntausend Jahren gab es hier kein Tal, und damals war die Lava, auf der wir jetzt stehen, glühend und flüssig. Aber aufgrund der Kontinentalverschiebung haben sich die Platten im Durchschnitt 3 centimeter pro Jahr voneinander wegbewegt. Das dazwischenliegende Gebiet ist sozusagen richtungslos, und das hat oft zu Absenkungen geführt. Das Tal ist vermutlich 30 m breiter als es vor tausend Jahren war. Wir befinden uns hier auf vulkanischem Gebiet, alle Berge ringsum sind durch Vulkanausbrücke entstanden. Insgesamt könnte man hier an die 100 einzelne Vulkane auzählen, und wir finden hier fast sämtliche vulkanischen Formen vor, die es auf Island gibt. Trotz dieser großen Anzahl hat es glücklicherweise hier in den letzten zweitausend Jahren keinen Ausbruch gegeben. Der letzte war kurz nach Christi Geburt, die Insel mitten im See, die auf die gleiche Weise entstand wie vor 25 Jahren die Insel Surtsey im Süden von Island. Der Ausbruch fand unter der Wasserober-fläche statt, und als der Krater aus dem Wasser herausragte konnte Lava fließen und festes Gestein bilden.

Das Haus mit der kleinen Kirche zeigen den typischen Baustil isländischer Bauernhöfe aus dem letzten Jahrhundert. Wir sehen auch den großen See, in dem schätzungsweise 20-30 Millionen Fische leben. Der See hat einen Zufluß von ca 100 kubikmetern pro Sekunde, und dieses Wasser fließt zum größten Teil underirdisch durch Spalten in der Lava ein, die wir hier vor uns sehen. Das wasser, das aus dem isländischen Hochland kommt, wird in der Zukunft eine der wichtigsten Ressourcen für Island sein, und deswegen is das Wasser in den Lavaspalten und im See uns eine ständige Mahnung daran, dass wir die isländische Natur nach besten Kräften zu bewahren haben.

Am Anfang der ísländischen Geschichte, vor fast elfhundert Jahren, beschlossen die Isländer, ihrem neuen Staatsgebilde, in dem sehr unterschiedliche Gruppen einer Ordnung und Einigung bedurften, eine gesetzgebende Versammlung und nicht eine Monarchie zur Grundlage zu geben. Im ganzen Land wurde eine Stelle gesucht, die einingermaßen zentral gelegen war und über Wasser zum Kochen und Waschen, sowie Holz zum Häuserbau und Heizen verfügte. Eine gewisse Anhöhe, auf der das Thing zusammentreten konnte, war erforderlich, ebenso wie flacheres Gelände für Häuser, Zeltbuden und Menschen. Darüber hinaus brauchte man viel Weideland für die Pferde. Þingvellir wurde ausgewählt. Hier wurde das Allthing, das Thing oder Parlament aller, gegründet. Hierher kamen aber außer den Thingmitgliedern noch eine Menge ander Leute, so z.B. ihre Berater und die herausragendenen Persönlichkeiten des Landes. In der damaligen Zeit, als es keine Dörfer auf Island gab, war Þingvellir so etwas wie eine Sommerstadt. Die Menschen kamen um zu handeln, Nachrichten auszutauschen, Ehen zu schließen, die Abhaltung des Things und der Gerichts- verfahren mitzuverfolgen und auch ganz einfach um Feste zu feiern. In Þingvellir fanden die unterschiedlichen Gruppen zueinander, und hier wurde die islandische Nation geboren, indem sie ein gemeinsames Schicksal und gemeinsame Lebensbedingungen entdeckte.

Jetzt ist es an der Zeit, zur egentlichen Thingstatte zu gehen. Auf dem wichtigsten Platz des alten Things, dem Gesetzesberg, wird uns Professor Dr. Sigurður Líndal genaures über die Zeit zwischen 930 und 1262, die Gesetzgebung und die einzelnen Institutionen des damaligen Freistaats sagen. Wir gehen durch die Almannagjá, die Allmännerschlucht. Þingvellir is ein Ort der Klänge. Wenn wir die Almannagjá betreten, werden wir auf Trompteten gespielte isländische Melodien hören, die durch die ganze Schlucht klingen und durch das Echo hinunter auf die Thingebenen geworfen werden, genauso wie in früheren Zeiten.

Die Kirche von Þingvellir

Man hat häufig darüber diskutiert, ob diese alte Kirche, die von 1859 stammt, nicht abgerissen und statt dessen eine naue gebaut werden sollte. Gott sei Dank ist daraus nie etwas geworden und diese Kirche aus der ersten Generation isländischer Holzkirchen blieb stehen. Sie wurde von Bauern errichtet, von Bürgern dieses Landes ausgesmückt, für die Gemeinde von Þingvellir. Immer noch wird sie als Pfarrerkirche benutzt. Diese kleine Kirche ist aber gleichzeitig ein Symbol für die enge Verbindung von Glauben, Gesetzgebung und Nation. Die ersten Thingversammlungen wurden immer vom obersten Priester eröffnet. Nach Annahme des Christentums ging der ersten Sitzung des Things eine kirchliche Feier voraus, und so ist es auch heute noch beim Allthing in Reykjavík.

Die erste Kirche, von der man weiß, wurde ca. 1018 aus Holz errictet, das der norwegische König Þingvellir geschenkt hatte. Die Kirchen des Mittelalters waren größer als die der späteren Jahrhunderte, weil man dann be schlechtem Wetter die gesetzgebende Versammlung des Things, die Lögrétta, in die Kirche verlagern konnte. Als die parlamentarischen Aktivitäten in späteren Jahr-hunderten an Umfang immer mehr beschnitten wurden, bestand kein Bedarf mehr für so große Bauten, und die Kirchen wurden den Bedürfnissen der Gemeinde entsprechend kleiner.

Das Christentum wurde hier in Þingvellir im Jahre 1000 angenommen, und im Jahre 2000 wird hier im Gedenken an dieses Ereignis eine Feierstunde stattfinden. Aber schon vor diesem Zeitpunkt war das Christentum nach Island gekommen, und bereits im 10. Jahrhundert mehrte sich die Zahl derjenigen, die sich dazu bekannten. Es mußte zu einer Entscheidung über einen einheitlichen Glauben kommen. Ein große Volksmenge versammelte sich auf Þingvellir, beret, für den Glauben zu kämpfen. Der Gemeinschaftsfriede und die gesetzliche Grundlage waren in Gefahr. Mit diesem Gedanken vor Augen versuchten die führenden Persönlichkeiten, zu einem Konsens zu kommen, aber vergeblich, so daß zum Schluß dem Gesetzsprecher die schwierige Rolle zufiel, das oberste Gericht zu spielen und über den zukünftige Glauben zu entscheiden.

Nach einer langen Bedenkzeit berief der Gesetzsprecher alle Anwesenden zum Lögberg und hielt eine Rede über die Wichtigkeit dessen, daß die Nation eine Gesetzgebung, eine Religion und einen Glauben habe. Und er entschied, daß ein Mittelweg eingeschlagen werden sollte. Die Isländer sollten christilich sein, aber all denjenigen, die sich nicht mit dem offiziellen Glauben abfinden konnten, war es gestattet, ihrem Glauben nachzugehen und den heidnischen Göttern zu opfern, aber nur heimlich. Diese Entscheidung war genial – ein Beispiel für gute Diplomatie. Und wahrscheinlich sagt sie mehr aus als vieles andere über den Glauben und die Lebenshaltung der Isländer. Wir haben eine offizielle Staatsreligion, die evangelische Kirche. Wir gehören ihr an, wir nehmen an kirchlichen Zeremonien teil und beanspruchen kirchliche Dienstleistungen, aber fast ein jeder von uns geht in Dingen des Glaubens seine eigenen Wege, ganz parallel zu anderen gesellschaftlichen Angelegenheiten.

Grund für den ausgeprägten Indivualismus der Isländer ist wahrscheinlich in erster Linie der ständige Lebenskampf in diesem Land der Naturkatasrophen. Der Gedanke an Vulkanausbrüche, reißende Gletscherströme, überschwemmungen, Unwetter im Winter, einen kalten und oft gnadenlosen Himmel, der kein Futter für das Vieh herbab, und das wilde Meer, das sein Spiel mit den kleinen Booten und Menschenleben trieb. Im Ringen mit der Natur verschwanden oft Väter und Ernährer, und Mütter hatten den Verlust von vielen Kindern zu beklagen. Von 1100 bis 1800 verringerte sich die Bevölkerungszahl ständig, und erst in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts kam sie wieder auf den gleichen Stand wie zu den besten Zeiten des Freistaats. Welche Auswirkungen hatte dieser Kampf mit der Natur?

Der deutsche Theologe Paul Tillich nannte seine Biographie „Auf der Grenze“, was vielleicht eine sehr gute Bezeichnung für isländische Dasein ist. Die Volkssagen handeln ebenfalls vom Kampf mit den Elementargewalten der Natur, wie sich Menschen aus schwierigen und elenden Umständen zu befreien versuchen. Religiöse Tradition steht unter denselben Vozeichen. Gewiß wurde Theologie aus dem Ausland, nicht zuletzt aus Deutschland eingeführt, und hatte unter anderem großen Einfluß auf der Entstehung einer Isländischen Literatur. Aber trotz Luther, Neologie, Schleiermacher, Strauß, Wilhelm Herrmann, Adolf von Harnack und später Barth und anderen, die hier in Island Anhänger fanden, ist die isländische Religion noch mehr vom Lebenskampf in einer gleichzeitig lieblichen und grausamen Umgebung geprägt. Die isländische Einstellung zur Religion is eine „Theologie der Grenze“ In klassischen isländischen theologischen Schriften wird der Mensch als eine Grenzexistenz am äußersten Rand der Welt beschriben, in ständigem Kampf mit seinem inneren, mit der Natur. Der Mensch is ausgefordert, den drohenden Mächten ins Auge zu sehen, den schwierigen Lebensbdingungen, und mit Würde und moralischer Verantwortung sein Leben zu leben, und weder vor Natur-katastrophen noch vor sittlicher Verderbnis zu kapitulieren.

Þingvellir hat eine Symbolfunktion für dieses Land. Die natürliche Beschaffenheit erinnert die Isländer ständig an Vergänglichkeit und Risiko. Þingvellir is die Stätte des Things, hier fanden schicksalsschwere historische Ereinisse statt, hier war in gewissen Sinne die Kernzelle für Unabhängigkeitskampf und Religion. Hier treffen Ost und West aufeinander, die natürlichen und die historischen Gegebenheiten machen Þingvellir zu einem symbolischen Ort nicht nur für Isländer, sondern auch für viele Ausländer, die die Bedeutung dieses Ortes verstehen, die verstehen, wie seine Tradition in Diplomatie und der isländische Lebenskampf bespielhaft sein können für globale Probleme im Zusammenleben von Nationen und Völkergruppen einerseits und der Natur andereseits.

Texti SÁÞ til undirbúnings heimsókn forseta Þýskalands dr. Richard von Weizcäcker, 17. júlí 1992. Þýðinguna gerði lærifaðir minn í MR dr. Kjartan Gíslason. Myndir SÁÞ.